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Leiturteil des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1bis StPO)

 

Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare

gesetzliche Grundlage

 

Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.

 

Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht

und Legalitätsprinzip

 

In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).

 

In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).

 

Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr

 

Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.

 

Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr

 

In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:

 

Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen

 

Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfall­prognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Ge­waltver­bre­chen fest­gestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Dies­be­züglich kön­ne an der bisheri­gen einschlägigen Bundes­gerichts­praxis nicht mehr fest­ge­halten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:

 

Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernst­haften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerver­bre­chen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht aus­drück­lich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Pro­gno­se­stellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tra­gen sein, dass bei qualifi­zierter Wiederholungsgefahr Schwerver­bre­chen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederho­lungsgefahr sei von einer sogenannten «umge­kehrten Pro­portionalität» zwischen Deliktsschwere und Ein­tretenswahr­schein­lichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vor­instanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schwe­ren Gewalt­ver­brechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintre­tens­wahr­scheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Progno­se­beur­teilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Ein­zel­falles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).

 

Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erheb­liche (ernsthafte und unmittelbare) Wahr­schein­lichkeit für neue schwe­re Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallge­fahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unbere­chen­barkeit des Beschuldigten, der beson­deren (gewaltexzes­si­ven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungs­deliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weite­ren Gewaltbereitschaft, seiner Affini­tät für sadisti­sche Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Oberge­richt dargelegten An­zeichen für eine massive Sucht­mit­tel­problematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).

 

Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr

 

Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxis­änderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundes­gericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbre­chen und schweren Verge­hen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetz­geber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegen­satz zur ein­fachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätz­liche) «unmittelbare Sicherheitsge­fährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).

 

22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA