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Der Haftgrund der Ausführungsgefahr

Die Ausführungsgefahr ist ein hoch interessanter und kriminalpolitisch umstrittener Haftgrund. Viele Verteidiger und gewisse Hochschuldozierende monieren, dass es sich um Präventivhaft handle, die eher ins Polizeirecht (präventive Gefahrenabwehr) gehöre als ins Strafprozessrecht (repressive Untersuchung und Verfolgung von Straftaten). Die Praktiker der Strafjustiz weisen darauf hin, dass der Haftgrund zwar eher selten zur Anwendung gelangt, in der Praxis jedoch unverzichtbar erscheint.

-- Wie sind die gesetzlichen Haftgründe konzipiert und inwiefern stellt Haft wegen Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) Präventivhaft dar?
Ein Blick auf Art. 221 StPO zeigt, dass alle anderen gesetzlichen Haftgründe von Abs. 1 neben einem sogenannten "besonderen" Haftgrund (Flucht-, Kollusions- und Wiederholungsgefahr, lit. a-c) zusätzlich den dringenden Tatverdacht eines bereits begangenen Verbrechens oder Vergehens voraussetzen. Man spricht hier auch vom "allgemeinen" Haftgrund des dringenden Tatverdachts, der in den Fällen von Abs. 1 immer vorliegen muss. Die Ausführungsgefahr in Abs. 2 ist demgegenüber ein selbstständiger Haftgrund, der keinen dringenden Tatverdacht eines bereits verübten Deliktes (notwendigerweise) voraussetzt. In den Fällen von Abs. 2 kann somit Haft zulässig sein, obwohl in strafrechtlicher Hinsicht noch "nichts passiert" ist, das bereits untersucht werden könnte. Das Gesetz drückt sich in Abs. 2 dementsprechend anders aus als in Abs. 1: Anstatt von einer "beschuldigten Person" (Abs. 1) spricht Abs. 2 bloss von einer "Person"; wenn noch keine mutmassliche Straftat passiert ist, kann auch niemand förmlich beschuldigt sein. Ausserdem spricht Abs. 2 von "Haft" und nicht von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Gemeint ist damit Präventivhaft; wenn keine Straftat untersucht wird und keine mutmassliche Sanktion zu sichern ist, kann auch keine Untersuchungs- oder Sicherheitshaft vorliegen.

-- Welche Fälle werden von Art. 221 Abs. 2 StPO erfasst und wieso ist dieser Haftgrund in der Kriminalpraxis unentbehrlich?
Der klassische Anwendungsfall einer Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr sieht exemplarisch wie folgt aus: Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte X sagt seinem Kumpel Y, er werde seine (Xs) Freundin umbringen, da sie ihn betrogen habe. X schildert dem Y detailliert und glaubhaft, wie er das Opfer zu töten plant. Y geht zur Polizei und meldet dort, was X ihm gesagt hat. Eine Untersuchungshaft gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO ist hier nicht möglich, da noch kein Delikt (kein dringender Tatverdacht) vorliegt, das untersucht werden könnte. Das Verhalten von X, der gegenüber Y lediglich ankündigt, er werde eine dritte Person töten, ist noch keine Straftat, die verfolgt werden könnte. Wenn die Staatsanwaltschaft Präventivhaft beantragt und der Haftrichter zum Schluss kommt, es sei ernsthaft zu befürchten, dass X seine Drohung wahrmachen könnte, wird der Haftrichter Präventivhaft anordnen. Diese dauert dann so lange, bis ein Psychiater abgeklärt hat, ob X aus psychiatrischer Sicht gefährlich ist und töten könnte. Wenn die Prognose sehr ungünstig ist, wird Fürsorgerischer Freiheitsentzug wegen Fremdgefährdung gegen X angeordnet werden; Untersuchungshaft ist nicht möglich, da kein Delikt vorliegt. Wenn die Prognose nicht sehr ungünstig ist, wird X aus der Präventivhaft entlassen werden, allenfalls gegen Ersatzmassnahmen für Haft (z.B. Verbot, sich der bedrohten Person zu nähern, ambulante Psychotherapie, fürsorgerische Massnahmen usw.).

Es gibt noch einen Spezialfall der Ausführungsgefahr, den einzelne Anwälte und Anwältinnen zum Anlass nehmen zu behaupten, Präventivhaft sei überflüssig: Im oben geschilderten "klassischen" Fall liegt keine Straftat vor, weil X eine Tötung gegenüber Y ankündigt und nicht gegenüber dem anvisierten potenziellen Opfer. Falls X seine Freundin direkt mit dem Tod bedroht und diese (wegen der Ernsthaftigkeit der Drohung) in Schrecken oder Angst versetzt wird, läge bereits eine strafbare Drohung (Art. 180 StGB) vor. In diesem Fall könnte also bereits eine Strafuntersuchung gegen X wegen mutmasslicher Drohung eröffnet werden. Trotzdem müsste auch hier oft auf Präventivhaft (Abs. 2) zurückgegriffen werden und nicht auf einen besonderen Haftgrund nach Abs. 1: Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. a-c würde nämlich neben dem dringenden Tatverdacht von Drohung auch noch den Nachweis von Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr oder Wiederholungsgefahr voraussetzen. Diese besonderen Haftgründe sind nicht ohne weiteres erfüllt. Wenn aber X seine Freundin mit dem Tod bedroht und zudem ernsthaft zu befürchten ist, er werde seine Drohung wahr machen, rechtfertigt sich Präventivhaft nach Abs. 2.

-- Kriminalpolitische Würdigung, Alternativen, Praxis zur Ausführungsgefahr, Bedeutung von psychiatrischen Gutachten
Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr wird relativ selten angeordnet. Der Haftgrund ist heikel, da hier eine Person "bloss" wegen schwersten Drohungen inhaftiert wird, die noch nicht zwangsläufig strafbar sein müssen. Allerdings sieht auch das Zivilrecht (ZGB) bei schwerer Selbst- oder Drittgefährdung einen möglichen gerichtlich verfügten Freiheitsentzug vor (bis die Gefährdung therapeutisch behoben ist und in den Grenzen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes). Insofern stellt Art. 221 Abs. 2 StPO eine diffus-hybride Haftart dar zwischen Strafprozess-, Polizei- und zivilem Fürsorgerecht. Nach der Einschätzung vieler erfahrener PraktikerInnen und Dozierenden braucht es aber weiterhin die Möglichkeit einer Präventivhaft in solchen Fällen. Der Gesetzgeber will die Ausführungsgefahr in der hängigen StPO-Revision denn auch (nach den bisherigen Entwürfen) beibehalten. Teile der Anwaltschaft kämpfen kriminalpolitisch dagegen an. Eine andere Frage ist die, ob diese Konstellation dem Zivilrichter überlassen werden könnte, der über Fürsorgerischen Freiheitsentzug nach ZGB entscheidet. In den Fällen, wo bereits strafbare Drohungen zu untersuchen sind, wäre eine solche Überlappung von Zuständigkeiten zwischen Straf- und Zivilbehörden allerdings heikel. Und für die Betroffenen macht es im Ergebnis wenig Unterschied, ob nun ein Straf- oder ein Zivilrichter über den Freiheitsentzug entscheidet.

Die heutigen gesetzlichen Hürden für die Anordnung von Präventivhaft und die Gerichtspraxis nach StPO sind ziemlich streng. Es muss ein schweres Verbrechen, etwa ein Tötungsdelikt, ein schweres Sexualdelikt oder schwere Körperverletzung, ernsthaft drohen.  Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei der Annahme von Ausführungsgefahr besondere Zurückhaltung geboten. Das Bundesgericht verlangt eine sehr ungünstige Risikoprognose. Es verlangt hingegen nicht, dass der Drohende bereits konkrete Anstalten getroffen haben müsste, um das angedrohte schwere Verbrechen zu verüben. Zum Beispiel muss er sich noch keine Tatwaffe zwangsläufig beschafft haben. Entscheidend ist, ob die Wahrschein­lichkeit einer Aus­führung aufgrund einer Gesamtbewertung der per­sönlichen Ver­hält­nisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Dabei ist auch dem psychi­schen Zustand der drohenden Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Ag­gressivität und allfälligen Vorstrafen Rechnung zu tragen. Je schwerwiegender das ernsthaft angedrohte schwere Verbrechen ist, desto eher rechtfertigt sich grundsätzlich, im Rahmen einer sorgfältigen Risikoprüfung, die Präventivhaft.


Wenn der Haftrichter z.B. sieht, dass jemand "bloss" aus Verzweiflung, unter Drogeneinfluss oder aus grober Fahrlässigkeit schwer gedroht hat, die Ausführung aber nach den konkreten Umständen nicht sehr wahrscheinlich erscheint, wird er auf Präventivhaft verzichten, allenfalls Ersatzmassnahmen anordnen oder den Fall dem Zivilrichter (häusliche Gewalt, Prüfung von Fürsorgerischer Unterbringung oder anderen fürsorgerischen Massnahmen) übergeben. Wenn der Haftrichter hingegen schwere Bedenken hat und die Ernsthaftigkeit nicht ausreichend ausschliessen kann, wird er ein psychiatrisches Vorabgutachten zur Gefährlichkeitsprognose einholen. Dieses sollte innert einigen Wochen bis wenigen Monaten erstellt werden. Oft fallen diese Gutachten allerdings etwas vage aus, weil erstens die Beurteilung "ad hoc" (ohne längere therapeutische Erfahrung) schwierig ist und zweitens die forensischen PsychiaterInnen die "Verantwortung" auf beide Seiten hin nicht sehr gerne übernehmen. Regelmässig muss der Haftrichter daher eine sehr heikle Abwägung vornehmen zwischen den Risiken für das bedrohte Opfer und den Freiheitsrechten der drohenden Person.

 

6. Mai 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster