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Revision der strafrechtlichen Bestimmungen gegen den Terrorismus. Statistische Schönfärbereien und ihre kriminalpolitischen Auswirkungen

Anfang Dezember 2019 ist der Ständerat (nach einem Rück­wei­sungsantrag von Ständerat Beat Rieder) auf die Terrorismusvorlage (BBl 2018 6427ff., 6525 ff.) vorläufig nicht ein­ge­treten. Es wurde verlangt, dass die Sicherheitspolitische Kommission einen Mitbericht der Rechtskommission einholt.

Unter Hinweis auf die Vernehmlassung des Anwaltsverbandes wurde insbesondere die Vorlage zu den rechtshilferechtlichen Bestimmungen kritisiert; so erlaube der Art. 80dbis E-IRSG den Staatsanwälten (nicht nur bei Terrorismusverdacht), vorzeitig (vor Abschluss eines entsprechenden förmlichen Rechtshilfeverfahrens) Informationen und Beweismittel an ausländische Strafbehörden zu übermitteln (vgl. Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2019). Dieser Einwand übersieht, dass heute sogar eine unaufgeforderte Übermittlung ans Ausland (ohne jegliches Rechtshilfeersuchen) zulässig sein kann (Art. 67a IRSG).

Leider werden die statistischen Zahlen zur Entwicklung terroristischer Gewaltverbrechen von den amerikanischen und europäischen Behörden regelmässig geschönt und verzerrt dargestellt:

Das Aussenministerium der USA (State Department) hat Statistiken zur Zahl der "weltweiten" Terroranschläge und zur Zahl der getöteten Opfer zwischen 2006 und 2018 publiziert (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380942/umfrage/anzahl-der-terroranschlaege-weltweit/ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/). Die betreffenden Zahlen könnten zunächst einen gewissen Rückgang terroristischer An­schläge suggerieren. Wenn westliche (und besonders amerikanische) Quellen von "weltweit" sprechen, meinen sie allerdings in der Regel die westliche "Welt". Die Zahlen der in den Jahren 2012 und 2017 angeblich Getöteten (11'098 bzw. 18'753 Menschen) erscheinen auffällig tief (und merkwürdig präzise).  Hat hier z.B. auch der Staatsterror gegen die eigene Zivilbevölkerung (etwa durch das syrische Regime, u.a. mit dem Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten) Berücksichtigung ge­funden? Und wie steht es mit den damaligen horrenden Opferzahlen allein des IS in Syrien und im Irak oder mit den unüberschaubaren Mordserien diverser Terrororganisationen (etwa in Afghanistan, im Yemen oder in verschie­denen Regionen Afrikas)? Könnte es sein, dass die amerikanischen Behörden damit angebliche Erfolge ihres (ab 2001 eingeleiteten) "War on Terrorism" dokumen­tieren möchten? Solche politisch gefärbten Zahlen müssten aufgrund von anderen verlässlichen Quellen (etwa des Internationalen Roten Kreu­zes oder der UNO) jedenfalls kritisch hinterfragt werden. Selbst aus den Zahlen des State Department liessen sich bestenfalls grosse Schwan­kungen der Opfer­zahlen (zwischen 2006 und 2017) ablesen. Und im Jahr 2018 hat die Zahl der Terror-Todesopfer mit 32'836 Personen sogar einen neuen absoluten Höchststand erreicht (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/).

 

Aber auch Europa "trickst" und beschönigt mit gewissen Statistiken zu terroristischen Gewaltverbrechen: So hat die EU (über Europol) Zahlen publiziert zu den "terroristischen Angriffen" von 2008-2018 in Europa und den diesbezüglichen Festnahmen (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/493217/umfrage/angriffe-und-festnahmen-mit-terroristischem-hintergrund-in-der-eu/). Zwar sind die Festnahmen seit ca. 2010 markant (auf mehr als das Zweifache) gestiegen. Auffällig ist jedoch, dass Europol nur die Zahl der terroristischen "Angriffe" nennt, aber keine Opferzahlen. Daraus resultiert eine Verfälschung der Statistik: Blosse Einzelangriffe werden gleich gezählt und gewichtet wie Massenmorde (z.B. das Massaker vom 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal "Bataclan" oder die beiden Massentötungen mit Lastwagen von 2016 in Nizza und Berlin). Der methodische Unsinn führt zum verzerrten Bild, dass  ausgerechnet  die beiden europäischen "Terrorjahre" 2015 und 2016 (mit hunderten Toten und Schwerverletzen) statistisch "friedlicher" erscheinen als z.B. die Jahre 2014 und 2017, und dass dabei das falsche Bild einer seit 2010 abnehmenden bzw. gleichbleibenden terroristischen Gewaltkriminalität suggeriert wird.

Zur Erinnerung: Allein bei den drei "Angriffen" vom 13. November 2015 in Paris gab es 130 Tote und 683 Verletzte. Am 14. Juli bzw. 19. Dezember 2016 wurden bei zwei Lastwagen-Anschlägen in Nizza und Berlin 86 bzw. 11 Menschen getötet; 400 bzw. 55 weitere Opfer wurden (grossteils schwer) verletzt. Mit anderen Worten: Zwar ist seit 2010 die Zahl der jährlichen Anschläge eher etwas gesunken; die Opferzahlen haben aber (bis 2015/2016) wieder markant zugenommen. Auch die statistischen Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes kranken an ähnlichen Gewichtungsfehlern (indem zwischen der Anzahl und der Schwere der Anschläge in Europa nicht ausreichend differenziert wird, vgl. Lagebericht NDB "Sicherheit Schweiz 2019", S. 38).

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Behörden primär Erfolge vermelden wollen (steigende Anzahl Verhaftungen), während die hohen Opferzahlen (auch in Europa) statistisch retouchiert werden (Zählen von "Anschlägen" anstatt von Opfern). Solche Schönfärbereien beeinflussen offenbar auch die kriminalpolitischen Entscheide des eidgenössischen Parlamentes bei der Revision des veralteten Terrorismus-Strafrechts.

 

Auch in der (revisionskritischen) strafrechtlichen Literatur mischen sich gelegentlich "wissenschaftliche" Argumente mit kriminalpolitischen Motiven: Schon dem bisherigen Art. 260ter StGB wurde vorgeworfen, er sei "präventiv" ausgerichtet und führe zu einer strafrechtsdogmatisch unzulässigen Vorverlagerung der Strafbarkeit, indem er Aktionen unter Strafe stelle, "bevor überhaupt ein konkretes Delikt verübt" worden sei. Dabei "suggeriere" das Strafrecht der Bevölkerung einen "Schutz vor terroristischen Attentaten" bzw. eine "Beherrschung des Problems". – Solchen Verkürzungen ist zu widersprechen: Die Mafia oder terroristische Organisationen wie der IS haben bereits zahlreiche Schwerverbrechen nachweislich begangen. Mit einer "Verschiebung der Strafbarkeit auf der Zeitachse" (wie in Teilen der Literatur behauptet wird) hat Art. 260ter StGB überhaupt nichts zu tun. Die Bestimmung bezweckt vielmehr eine Beweisverlagerung: Angehörige (namentlich Bosse) mafiöser und terroristischer Organisationen sowie deren massgebliche Unterstützer sollen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn ihnen noch keine Beteiligung (Mittäterschaft oder Teilnahme) an einem konkreten Mafiaverbrechen oder einem terroristischen Gewaltverbrechen persönlich zugerechnet werden kann.

 

Wenn der Gesetzgeber hier eine Strafwürdigkeit erkennt, geht es ihm weder um "Prävention", noch begeht er ein strafrechtsdogmatisches Sakrileg. Selbst das gemeinrechtliche Individualstrafrecht kennt diverse Fälle von akzessorischer Strafbarkeit ohne Verwirklichung des anvisierten Hauptdeliktes: Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist ohne jegliche Haupttat strafbar (Art. 24 Abs. 2 StGB). Auch blosse (öffentliche) Aufrufe zu Verbrechen oder Gewaltstraftaten (Art. 259 StGB) oder blosse Vorbereitungshandlungen zu gewissen Schwerverbrechen (Art. 260bis StGB) sind strafbar, ohne dass in der Folge eine entsprechendes Verbrechen versucht oder verübt werden müsste. Falls ein Terrorist z.B. wegen eines konkreten Mordes angeklagt wird, muss auch ihm eine persönliche Beteiligung daran rechtsgenüglich nachgewiesen werden.  Wieso aber sollten Mafiosi und Terroristen nicht schon wegen ihrer nachweisbaren Zugehörigkeit z.B. zur Camorra oder zum IS in angemessener Weise bestraft werden können?

Wer gegen solche "Vorverlagerungen" der Strafbarkeit im Bereich der Schwerstkriminalität ankämpft, betreibt in der Regel keine Strafrechtsdogmatik, sondern Kriminalpolitik. Erfreulicherweise besteht für eine entsprechende Modernisierung und Verschärfung des Terrorismusstrafrechts nach schweizerischem Modell (vgl. dazu schon M. Forster, Kollektive Kriminalität, Das Strafrecht vor der Herausforderung durch das organisierte Verbrechen, Basel 1998) unterdessen ein weitgehender völkerrechtlicher Konsens (vgl. Art. 6 Abs. 1 und 8-9 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16. Mai 2005, SEV Nr. 196, BBl 2018 6541 ff.).

 

Die im Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Änderung, bei der neuen Unterstützungsvariante die verbrecherische Zielsetzung der kriminellen Organisation nicht (nochmals) zu erwähnen (Art. 260ter Abs. 1 lit. b E-StGB), verdient Zustimmung: Zum einen wird diese Zielsetzung bereits bei der gesetzlichen Definition der (unterstützen) krimOrg ausreichend erwähnt; zum anderen hat die Bundesgerichtspraxis deutlich gemacht, dass die Unterstützung konkreter Verbrechen hier gerade nicht zu verlangen ist, weshalb der bisherige (renundante) Gesetzestext missverständlich wirkt.

 

Berechtigt scheint hingegen die Kritik (etwa des Anwaltsverbandes) am vorgeschlagenen Wegfall des Geheimhaltungs-Merkmals (Art. 260ter Abs. 1 E-StGB): Dass ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal die Strafverfolgung "erschwere" (so das Hauptargument der Strafverfolger), ist vom Gesetzgeber gewollt und reicht als kriminalpolitisches Motiv einer Streichung (für sich alleine) nicht. Das bisherige Erfordernis der Geheimhaltung des Aufbaus und der personellen Zusammensetzung der krimOrg erklärt sich aus der (leider vielfach in Vergessenheit geratenen) Zielsetzung der Norm: Die Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Beteiligung und Unterstützung ausserhalb der klassischen Regeln der Teilnahmedogmatik rechtfertigt sich nur für besonders gefährliche terroristische sowie (im engeren Sinne) mafiöse Gruppierungen, nicht aber für "gewöhnliche" Verbrecherbanden, bei denen die "Omertà" und die heimliche Unterwanderung (der legalen Wirtschaft und Politik) eine deutlich geringere Bedeutung spielen.

 

Sehr zu begrüssen ist wiederum die höhere Strafobergrenze (10 Jahre) für Terroristen (Art. 260ter Abs. 2 E-StGB) sowie das Mindeststrafmass (drei Jahre) für Mafiabosse bzw. Terroristen mit "bestimmendem Einfluss" (Abs. 3). Wenig einleuchtend scheint hingegen, wieso der Mafiaboss lediglich mit höchstens 5 Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden soll, sofern ihm keine konkreten Verbrechen persönlich nachzuweisen sind (Abs. 2 ist allein auf terroristische krimOrg zugeschnitten).

 

Das schweizerische Terrorismus-Strafrecht weist leider weiterhin bedenkliche Lücken auf, denen der Entwurf des Bundesrates von 2018 zu wenig Rechnung trägt: Völlig zu übersehen scheint der Gesetzgeber das Problem der terroristischen Anschläge und Massenmorde von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese werden von Art. 260ter StGB überhaupt nicht erfasst.  Zu erinnern ist hier beispielsweise an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bom­ben­attentat am Boston Marathon 2013, die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland, oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

 

Nur wenig hilfreich und stark auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang der neu vorgeschlagene Art. 260sexies E-StGB: Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft bemerkt hat, könnten damit höchstens "kleinere Lücken" geschlossen werden: Zwar setzt diese Bestimmung keine terroristische Organisation voraus. Die dort unter Strafe gestellten Handlungen (Anwerben, Sich-Anleiten-Lassen/Anleiten, Reisen) müssen jedoch "im Hinblick auf die Verübung eines" (konkreten terroristischen) "Gewaltverbrechens" erfolgen. Die Tragweite der vorgeschlagenen Norm geht daher über die  bereits strafbaren  Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB) bzw. über Beihilfe zu Gewaltverbrechen (Art. 25 StGB) kaum hinaus.

 

Zudem ist nur schwer zu erkennen, wie die Schweiz damit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Ratifikation des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (vom 16. Mai 2005) vollständig nachkommen würde: Artikel 6 Absatz 1 dieses Übereinkommens verlangt ausdrücklich eine Strafnorm gegen Anwerbungen "für terroristische Zwecke". Eine solche Strafnorm ginge deutlich weiter als die vom Bundesrat (in Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB) inkriminierte Anwerbung für ein konkretes terroristisches "Gewaltverbrechen" ("Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran"). Schon die gezielte Anwerbung, sich z.B. dem IS anzuschliessen, muss nach dem Übereinkommen des Europarates unter Strafe gestellt werden (und nicht bloss die Anwerbung für konkrete Gewaltverbrechen des IS). In Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB muss die fragliche verunglückte Wendung ("für die Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran") daher ersetzt werden durch: "für terroristische Zwecke".

Im Übrigen drängt sich eine gezielte Ausweitung von Art. 260quinquies StGB (Terrorismusfinanzierung) auf: Gemäss der langjährigen Praxis des Bundesgerichtes stellt diese Norm die Finanzierung von terroristischen Einzeltätern und (wenig strukturierten) terroristischen Kleingruppen unter Strafe (die Finanzierung von terroristischen Organisationen im engeren Sinne fällt unter Art. 260ter StGB).  Es ist schlechterdings nicht einzusehen, weshalb die bewusste und massive logistische Unterstützung von hochkriminellen Einzelterroristen (wie Breivik usw.) oder terroristischen Kleingruppen (z.B. NSU) ausschliesslich in der Form der finanziellen Unterstützung strafbar sein sollte.

6. Januar 2020 / © Prof. Dr. Marc Forster