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Fall Rupperswil: Wie der Antennensuchlauf Menschenleben rettet

Seit einigen Wochen berichten die Medien intensiv über das Mehrfach-Tötungsdelikt in Rupperswil, dem am 21. Dezember 2015 eine Mutter, ihre beiden (13 bzw. 19 Jahre alten) Söhne und eine (21-jährige) junge Frau (Freundin des 19-Jährigen) zum Opfer fielen. Heute hat das Bezirksgericht Lenzburg das erstinstanzliche Strafurteil gefällt: Es sprach den Beschuldigten Thomas N. schuldig des mehrfachen Mordes, der räuberischen Erpressung, der Geiselnahme, sexueller Handlungen mit Kindern, der sexuellen Nötigung, strafbarer Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden sowie weiterer Delikte. Das Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Zudem erhält er eine ambulante Psychotherapie und wird er ordentlich verwahrt.

 

Angesichts der laut Bezirksgericht und Anklageschrift erdrückenden Beweislage gegen den beschuldigten Thomas N. (DNA-Spuren, Fingerabdrücke, Geständnis usw.) geht allzu leicht vergessen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Monaten nach der Bluttat noch völlig im Dunkeln tappten und die Überführung mittels DNA-Spurenabgleich erst möglich wurde, nachdem die Ermittler Thomas N. als Verdächtigen hatten identifizieren können. Die erfolgreiche Identifizierung des Beschuldigten (und damit das gesamte nachfolgende Beweisfundament) war aber wiederum erst aufgrund einer digitalen "Rasterfahndung" mittels sogenannten "Antennensuchlaufs" zustande gekommen:

 

Bei der Rasterfahndung per Antennensuchlauf werden Verbindungs-Randdaten des mobilen Fernmeldeverkehrs von zunächst unbestimmt vielen (möglicherweise sehr vielen) Teilnehmern erfasst und (vorerst anonymisiert) abgeglichen, um aus den Randdaten der Mobilfunkantennen an den jeweiligen Tatorten und weiteren Ermittlungsergebnissen möglichst eine Schnittmenge von konkret verdächtigen Gerätebenutzern zu ermitteln (vgl. dazu Marc Forster, Antennensuchlauf und rückwirkende Randdatenerhebung bei Dritten, Bundesgerichtspraxis und gesetzliche Lücken betreffend Art. 273 und Art. 270 lit. b StPO, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers, Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 357 ff., 359 f.).

 

Im Fall Rupperswil war zunächst ermittelt worden, welche mobilen Fernmeldeanschlüsse in der Nähe des Tatortes im Tatzeitraum aktiv waren. Im Januar 2016 erhielt die Aargauer Kriminalpolizei die anonymisierten digitalen Rohdaten dieses Antennensuchlaufs. Es handelte sich zunächst um Zehntausende von Verbindungs-Randdaten bzw. registrierten Fernmelde-Aktivitäten sehr vieler mobiler Geräte. Aufgrund der Fachmeinung eines "Profilers" und weiteren Indizien ging die Polizei davon aus, dass die Täterschaft vermutlich selber in Rupperswil (oder naher Umgebung) wohnte. Um einen "Schnittmengen-Raster" herauszufiltern, wurde mit grossem Aufwand abgeklärt, welche der zahlreichen mobilen Geräte, die am Tatort und im Tatzeitraum aktiv waren, auch noch an anderen Antennenstandorten in Rupperswil regelmässig, d.h. über Monate hinweg, in Betrieb waren. Das waren dann nur noch wenige Geräte. In der Tat wohnte Thomas N. nur ca. 500 Meter vom Tatort entfernt. Und glücklicherweise war die Antennendichte in Rupperswil relativ hoch, so dass über die Antennen am Tatort und am  Wohnort von Thomas N. eine Schnittmenge gebildet werden konnte (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 358 f.).

 

Es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Antennensuchlauf im Fall von Thomas N. weitere Opfer verhindert und einige Menschenleben gerettet hat:

 

Gemäss der 28 Seiten umfassenden Anklageschrift der Aargauer Staatsanwaltschaft habe der Beschuldigte sich schon bei der Bluttat vom 21. Dezember 2015 Zutritt zur Wohnung der Opfer verschafft, indem er sich mit einer gefälschten Visitenkarte als "Schulpsychologe Dr. Sebastian Meier" ausgegeben und ein weiteres gefälschtes Dokument (von ihm selbst verfasster vorgeblicher Brief einer Schulbehörde aus dem Kanton Aargau) vorgelegt habe. Bereits unmittelbar nach dem schweren sexuellen Missbrauch an einem der gefesselten Opfer, dem 13-jährigen Knaben, und nach der Tötung aller vier Opfer (per Kehlschnitt mit einem Messer) habe der pädosexuell veranlagte Thomas N. analoge Verbrechen an mindestens zwei weiteren Familien geplant und akribisch vorbereitet:

 

So habe der Beschuldigte nach dem gleichen Muster neue Briefe angefertigt, die vorgeblich von einer Schulbehörde aus dem Kanton Solothurn bzw. einer Schulleiterin stammten. Am 27. Dezember 2015, sechs Tage nach der Bluttat, habe er im Internet nach einer Familie im Kanton Bern recherchiert. In einem speziell angelegten Notizbuch habe er eigentliche "Fichen" angelegt über insgesamt elf weitere Knaben, alle im Alter von ca. 11-14 Jahren. Darin habe er Photos der Knaben gesammelt und minutiös mit weiteren Informationen wie Namen und Wohnorte ergänzt. Am 12. und 14. Januar 2016 habe er die von ihm  ausspionierte Berner Familie auf deren Festnetz-Telefonanschluss angerufen. Gemäss Anklage habe Thomas N. geplant, an dieser Familie (nach dem Muster von "Rupperswil") analoge Verbrechen zu begehen. Damals tappte die Polizei hinsichtlich der Täterschaft noch vollständig im Dunkeln.

 

Ebenfalls Verbrechen nach dem gleichen Muster habe der Beschuldigte an einer weiteren Familie aus dem Kanton Solothurn geplant und vorbereitet. Auch diese Familie habe er im Januar 2016 telefonisch angerufen (sich dabei aber am Apparat nicht gemeldet). Am 26. Januar 2016 habe er sich in das Wohnquartier der Familie begeben, um deren Tagesablauf auszuspionieren. Damals befand sich die Polizei (gemäss ihren eigenen Medienmitteilungen) erst im Besitz von zehntausenden digitalen Rohdaten des Antennensuchlaufs. Die Identifikation eines Verdächtigen mittels der technisch sehr aufwändigen hängigen Rasterauswertung war noch nicht erfolgt.

 

Am 11. Mai 2016 (unterdessen war er als Verdächtiger identifiziert) sei der Beschuldigte erneut in das Wohnquartier der Solothurner Familie gefahren. Wie bei der Bluttat von Rupperswil habe er im selben schwarzen Rucksack, den er schon damals verwendet habe, erneut die gefälschte Visitenkarte als "Schulpsychologe" bei sich getragen sowie ein gefälschtes Schreiben der Solothurner Schulbehörden. Ebenso habe er weitere Verbrechenswerkzeuge (vorbereitete Fesseln usw.) mitgeführt. Die Blutspuren seiner Opfer von Rupperswil am Rucksack habe er mit einem schwarzen Stift übermalt. Laut Anklageschrift habe er am 11. Mai 2016 von der Ausführung der geplanten und vorbereiteten neuen Verbrechen abgesehen. Am 12. Mai 2016 sei er verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sein Notizbuch die Namen von elf Knaben im Alter von 11-14 Jahren enthalten (vgl. dazu, mit Hinweisen auf die Anklageschrift, auch Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2018 S. 13; NZZ online vom 12. März 2018: "Ein zweites 'Rupperswil' konnte nur knapp verhindert werden").

 

Ohne Antennensuchlauf wäre Thomas N. vielleicht bis heute nicht identifiziert und gefasst worden. Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wären aber -- zumindest laut Anklageschrift und erstinstanzlichem Strafurteil -- weitere Schwerverbrechen erfolgt, die Thomas N. bereits akribisch vorbereitet habe: Am Tag vor seiner Verhaftung sei der Beschuldigte bereits -- im wahrsten Sinne des Wortes -- vor der Tür weiterer anvisierter Opfer gestanden. Das Bezirksgericht hat den Beschuldigten daher auch wegen strafbaren Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden und anderen Verbrechen verurteilt.

 

Das Bundesgericht hatte am 3. November 2011 in seinem Leitentscheid BGE 137 IV 340 die Rasterfahndung per Antennensuchlauf als grundsätzlich rechtmässige Untersuchungsmethode anerkannt (zu den Kriterien der Zulässigkeit dieser qualifizierten Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 359 f.). Da der Antennensuchlauf als Untersuchungsmassnahme nicht spezifisch und ausführlich im Gesetz geregelt ist, wurde das Bundesgericht für diesen Leitentscheid (in der juristischen Lehre) teilweise scharf kritisiert.

 

Leider hat es der Gesetzgeber auch in der am 1. März 2018 in Kraft getretenen letzten Revision des BÜPF und der StPO versäumt, eine klare gesetzliche Grundlage für den Antennensuchlauf (als qualifizierte Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs) zu schaffen. Darauf ist in der Fachliteratur bereits ausdrücklich hingewiesen worden (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 360).

 

Auch der Vorentwurf des Bundesrates zur hängigen Teilrevision der StPO sieht keine Regelung des Antennensuchlaufs vor. Wenigstens soll die einfache Standort- und Verkehrsranddatenerhebung bei Dritten (insbesondere Opfern von Delikten) spezifisch geregelt werden (vgl. Erläuternder Bericht EJPD zum VE StPO vom Dezember 2017, S. 38 Ziff. 2.1.41; zu diesem Revisionsvorschlag vgl. auch Forster, Antennensuchlauf, S. 360-367). Dies betrifft allerdings eine andere Problematik.

 

Fazit: Pragmatische Gerichtsentscheide sowie kluge Ermittlungsstrategien von Kriminalpolizei und Strafbehörden können Menschenleben retten. Dies zeigt der Fall Rupperswil anschaulich. Bedauerlich ist, wenn in der Strafrechtsdoktrin das Bundesgericht faktisch für das Fehlen klarer gesetzlicher Grundlagen für digitale Überwachungen verantwortlich gemacht wird und nicht der dafür zuständige Gesetzgeber.


16. März 2018 /
© Prof. Dr. Marc Forster