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Sind "die Zürcher" schuld am verunglückten Haftgrund der Wiederholungsgefahr?


Bernard Bertossa
  kommentiert (in Semaine Judiciaire 2011 Bd. I S. 286 f.) den kürzlich publizierten BGE 137 IV 13: Der Haftgrund der  Wiederholungsgefahr  (nach Art. 221 Abs. 1 lit. c der neuen StPO) verlangt unter ande- rem, dass der Beschuldigte "bereits früher gleichartige Straftaten verübt" hat. Der Haftgrund der  Ausführungsge- fahr  (Art. 221 Abs. 2 StPO) setzt voraus, dass eine Per- son damit  gedroht  hat, ein schweres Verbrechen auszu- führen.
    Das Bundesgericht hatte einen Fall zu beurteilen, wo dem Beschuldigten ein untersuchtes
Tötungsdelikt  zur Last gelegt wurde. Aufgrund des psychiatrischen Gutach- tens musste zwar befürchtet werden, dass der Beschul- digte (weitere) schwere Delikte dieser Art verüben könn- te. Er hatte jedoch weder eine entsprechende "Drohung" geäussert, noch hatte er (über das erst zu untersuchen- de Tötungsdelikt hinaus) bereits gleichartige Vortaten ver- übt. Aufgrund einer "systematisch-teleologischen" Ausle- gung (bzw. Gesetzeslückenfüllung) gelangte das Bundes- gericht zur Ansicht, dass bei  akut zu befürchtenden wei- teren Schwerverbrechen ausnahmsweise vom Vortaten- erfordernis  abgesehen  werden könne.
   Bernard Bertossa scheint den Entscheid zu begrüssen ("on respire") und kritisiert (etwas sarkastisch) das vom Gesetzgeber eingeführte Vortatenerfordernis bei schwe- ren Verbrechen. ("Il n'est pas certain que les victimes du troisième crime auraient apprécié!") Gleichzeitig will  Ber- tossa  die Ursache der verunglückten gesetzlichen Fas- sung ausfindig gemacht haben: - Die Zürcher... Was ihn übrigens nicht verwundere. ("Si on peine à comprendre de tels égarements, on en connaît au moins l'origine. Sans surprise, c'est dans l'ancien code de procédure pé- nale du canton de Zurich que l'on trouve, au paragraphe 58 al. 1 ch. 3, une disposition de même nature.")
    Hier irrt Kollege
  Bertossa  allerdings. Vielleicht hatte er eine schon etwas ältere Ausgabe der Zürcher StPO zur Hand. Jedenfalls kannte schon die Zürcher StPO (seit 2005) bei  Schwerverbrechen  den Haftgrund der soge- nannten  qualifizierten Wiederholungsgefahr  (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4), welche (im Gegensatz zur von  Bertossa  zitierten einfachen Wiederholungsgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 3)  kei- ne  bereits verübten Vortaten voraussetzte (nachzule- sen z.B. in BGE 135 I 71 E. 2.4 S. 73). Der Eidgenössi- sche Gesetzgeber hat es versäumt, eine entsprechen- de qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund in der neuen StPO einzuführen. Um die stossendsten Folgen abzuwenden, sah sich das Bundesgericht zu delikaten Auslegungsmanövern gezwungen.
   Soviel zur "Ehrenrettung der Zürcher". (Der Blogger ist Thurgauer.) Für den Eidgenössischen Gesetzgeber (und zwangsläufig für die Gerichte) sieht es weniger günstig aus: Leider ist Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO noch in weiteren Teilen ziemlich verunglückt (mehr dazu in: Basler Kom- mentar StPO-
Forster, Art. 221 N. 10-13, sowie im unten angefügten Aufsatz in der ZStrR/pdf, downloadbar).

Prof. Dr. Marc Forster, 16. August 2011.
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Zu den daraus resultierenden politischen Vorstössen siehe aktuell (Sommer 2013) auch: http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Auch-gefaehrliche-Ersttaeter-sollen-kuenftig-in-U-Haft-16233974

s. dazu auch den Aufsatz "Das Haftrecht der neuen StPO auf dem Prüfstand der Praxis"
Aufsatz Forster Haft ZStrR Nr 3 2012.pdf
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