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Fall Perinçek: Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte schützt rassistische Hetze gegen die Armenier auch in zweiter Instanz


Es ist einfach nur traurig. Da hetzt ein politischer Extremist in der Schweiz aus rassistischen Motiven systematisch gegen die Armenier, indem er den historisch belegten Genozid leugnet bzw. rechtfertigt und das Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen lächerlich zu machen versucht. Und der Europäische Gerichtshof findet, ein Staat wie die Schweiz, der solches Verhalten unter Strafe stellt und angemessen mit einer Geldstrafe büsst, verletze die Menschenrechte. Das Tolerieren von rassistischer Hetze gehöre eben -- so der EGMR in seinem heutigen Entscheid in zweiter Instanz -- zu einem "demokratischen Rechtsstaat". Dies unterscheide ihn von "Diktaturen" und "totalitären Systemen". Der EGMR behauptet, es gebe "keinen Konsens" über den Völkermord an den Armeniern. Damit führt er die Öffentlichkeit in die Irre: Er unterschlägt, dass es bloss an einem politischen Konsens (leider) bisher fehlt. Das ist aber juristisch völlig unerheblich. In der Schweiz werden keine Urteile aufgrund politischer Anschauungen gefällt, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Fakten. Unter ernstzunehmenden Historikern (dazu gehören weder Herr Perinçek noch andere dubiose Hobby- bzw. Auftrags-Historiker) sind die wesentlichen Fakten zum Armenier-Genozid nicht umstritten. Nur wenig tröstlich ist, dass das Urteil selbst unter den Richtern der Grossen Kammer des EGMR sehr umstritten war: Es fiel mit 10 zu 7 Stimmen zugunsten des Genozidleugners aus.

Das Zeichen, das der EGMR offenbar aus politischer Rücksichtnahme setzt, ist fatal. Rassistische Hetze gehört nicht unter den Schutz der Menschenrechte gestellt, sondern strafrechtlich verfolgt. Dass die in den Augen der EGMR-Richtermehrheit offenbar "totalitäre" und "meinungsäusserungsfeindliche" Schweiz dies tut, erfüllt mich als Staatsbürger und Jurist mit Stolz. Erfreulicherweise beschreitet die Schweiz diesen Weg nicht ganz alleine: Andorra, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Zypern und die Schweiz stellen nicht nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe, sondern das rassistisch motivierte öffentliche Leugnen sämtlicher Genozide. -- Könnte es sein, das kleinere Staaten in diesem Punkt ein besonders sensibles kriminalpolitisches Gespür unter Beweis stellen?


Marc Forster, 15.10.2015

siehe dazu auch meinen Aufsatz in forum poenale:
Aufsatz Forster EGMR Perincek in: forum
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